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Karlsruhe oftmals letzte Hoffnung
Für viele Kläger lagert hier die letzte Hoffnung. Ihren Rechtsstreit haben sie in allen Instanzen verloren. Nun appellieren sie an das Grundgesetz und die Verfassungshüter: Womöglich muss ihr Fall doch noch einmal aufgerollt werden, wenn die Karlsruher Richter einen Grundrechtsverstoß feststellen. In Raum 530 harren ihre Beschwerdeschriften der Entscheidung, manchmal jahrelang.
Denn hier ist ihre Geschichte eine von vielen. Jedes Jahr landen etwa 6000 neue Verfassungsklagen in Karlsruhe - Tendenz steigend.
Wenn die beiden Senate aus je acht Richtern in den großen Verfahren verhandeln oder ihre Urteile verkünden, stehen Übertragungswagen und Reporter vor dem gläsernen Gebäudekomplex am Rande des Schlossparks. Aber das kommt nur an ein paar Tagen im Jahr vor. Der allergrößte Teil der Arbeit passiert hinter verschlossenen Türen, ohne Aufheben.
Aussichtslose Beschwerden werden sofort aussortiert
Die offensichtlich aussichtslosen Beschwerden, die schon formal die Anforderungen nicht erfüllen, sortieren Juristen direkt aus dem Posteingang aus. Rechtspfleger schreiben den Klägern, dass sie zum Beispiel die Monatsfrist versäumt oder den Rechtsweg nicht ausgeschöpft haben. „Es gibt aber auch Bürger, die zurück schreiben, das interessiert mich alles nicht - ich will, dass das ein Richter sieht“, erläutert Stephan Stadtler (57), der seit 1990 im Haus arbeitet und das Gericht wie kaum ein Zweiter kennt.
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Wissenschaftliche Mitarbeiter sind unentbehrlich
Also bekommt auch diese Beschwerde ein Aktenzeichen und wird je nach Zuständigkeit dem Ersten oder Zweiten Senat zugeleitet. „Jeder hat einen Anspruch darauf, eine richterliche Entscheidung zu bekommen“, sagt Markus Jerxsen. „Dann bekommen wir diese Verfahren auf den Tisch“, ergänzt seine Kollegin Isabel Röcker. Die Mittdreißiger sind zwei der etwa 70 wissenschaftlichen Mitarbeiter am Gericht.
Ohne sie liefe hier nicht viel. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter, meist Richter und Staatsanwälte, die von den Landesjustizbehörden für zwei oder drei Jahre nach Karlsruhe abgeordnet werden, bilden den Unterbau der beiden Senate. Jeder Verfassungsrichter ist in seinem Senat und den Kammern an etwa 1000 Verfahren im Jahr beteiligt. Zu schaffen ist das nur, indem sein persönlicher Stab aus je vier Mitarbeitern ihm einen großen Teil der Vorbereitungen abnimmt.
Jerxsen und Röcker holen Stellungnahmen ein, bereiten die Rechtslage auf, formulieren Entscheidungsvorschläge vor. Manchmal geht das recht schnell. „Wenn man viele einfache Fälle zu bearbeiten hat, kann man mehrere pro Woche erledigen“, sagt Röcker. In großen Verfahren wie dem zum beschleunigten Atomausstieg, das die 35-Jährige für den Berichterstatter Michael Eichberger betreut, kann das Votum nach monatelangem Feilen aber auch an die 1000 Seiten lang sein.
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Allergrößte Arbeit hinter verschlossenen Türen
„Dann geht es oft wie eine Art Pingpong-Spiel hin und her“, beschreibt sie ihre Arbeit mit dem Richter an dem Text. Bis die Sache entscheidungsreif ist: „Den Verlauf der Beratung bekommen wir nicht unmittelbar mit“, sagt Jerxsen (36), der für den Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle arbeitet. Der Senat tagt im Geheimen.
Überwiegender Teil der Beschwerden wird nicht angenommen
Im Atomverfahren, in dem die Energiekonzerne für ein Anrecht auf Schadenersatz vom Staat streiten, dürfte am Ende ein hundertseitiges Urteil stehen. Der überwiegende Teil aller Kläger findet dagegen im Briefkasten einen Beschluss mit einem einzigen Satz: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.“
Manches ist auf den ersten Blick abwegig: Da sind die Verfassungsklagen gegen die Sommerzeit oder die fünfstelligen Postleitzahlen. Oder der Mieter, der überzeugt ist, über den Funkrauchmelder an seiner Zimmerdecke ausspioniert zu werden.
Auch Handschriftliches auf Karopapier wird gründlich geprüft
Viele versuchen es ohne Anwalt, mal auf Hunderten Seiten, mal mit einem Dreizeiler, und die Anforderungen sind nicht gerade gering. „Der Kläger muss klar und deutlich machen, warum das ein verfassungsrechtliches Problem ist“, sagt Jerxsen. Aber es gibt auch den Gefangenen, der aus seiner Zelle ohne Hilfe seine Haftbedingungen beanstandet - und damit Erfolg hat. „Auch wenn etwas handschriftlich auf Karopapier kommt - es wird gründlich geprüft“, sagt Röcker.
Allzu viel Hoffnung macht die Statistik allerdings nicht. Mehr als 200.000 Verfassungsbeschwerden hat das Gericht seit seiner Eröffnung im September 1951 geprüft. Nur 2,3 Prozent davon hatten Erfolg.
Längst nicht alle geben sich damit zufrieden
Stadtler erzählt gern von der älteren Dame, die irgendwann in den 90er Jahren zur Eingangstür marschierte, einen Hammer aus ihrer Handtasche holte und aus Wut über die Ablehnung ihrer Beschwerde das Glas einschlug. Im Normalfall wenden sich enttäuschte Kläger noch einmal schriftlich ans Gericht. Knapp 3000 solcher sogenannter Gegenvorstellungen gingen 2015 ein. Auch sie müssen noch einmal geprüft und beantwortet werden.
Andere rufen so regelmäßig an, um sich nach ihrem Verfahren zu erkundigen, dass die Rechtspfleger am Telefon die schmutzige Ehescheidung oder den Sorgerechtsstreit längst in allen Einzelheiten kennen. Dann bekommt die Geschichte in der gelben Akte ein Gesicht. „Da muss man neutral bleiben, das darf man nicht an sich ranlassen“, sagt Stadtler. „Wenn die Frist versäumt ist, ist die Frist versäumt.“